Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) und toxische epidermale Nekrolyse (TEN) sind selten, aber lebensbedrohliche Hautreaktionen, die meist durch Medikamente ausgelöst werden. Sie gehören zu den schwersten Nebenwirkungen, die eine Arzneimitteln haben können. Tausende Menschen nehmen täglich Medikamente - doch nur bei einem von einer Million Menschen pro Jahr tritt eine solche Reaktion auf. Dennoch ist es wichtig, die Warnzeichen zu kennen: Denn je schneller die Behandlung beginnt, desto höher die Überlebenschance.
Was ist der Unterschied zwischen SJS und TEN?
SJS und TEN sind nicht zwei verschiedene Krankheiten, sondern zwei Enden eines Spektrums. Der entscheidende Unterschied liegt in der Ausdehnung der Hautschädigung. Bei SJS löst sich weniger als 10 % der Hautoberfläche ab. Bei TEN sind es mehr als 30 %. Dazwischen gibt es eine Übergangsform mit 10-30 % Beteiligung - sie wird als SJS/TEN-Overlap bezeichnet. Je mehr Haut absterbt, desto gefährlicher wird es.
Die Haut verändert sich in wenigen Tagen dramatisch: Zuerst treten rote oder violette Flecken auf, meist am Rumpf. Diese werden schnell zu Blasen, die zusammenlaufen und große Hautflächen freilegen. Die betroffenen Stellen fühlen sich an wie schwere Verbrennungen - schmerzhaft, feucht und anfällig für Infektionen. Der Nikolsky-Zeichen ist positiv: Wenn man mit dem Finger leicht über die Haut streicht, löst sich die Oberhaut ab. Das ist ein deutliches Warnsignal.
Wie beginnt eine solche Reaktion?
Bevor die Haut auffällig wird, kommt es oft zu unspezifischen Symptomen, die wie eine Grippe wirken: Fieber über 39 °C, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Husten, Müdigkeit, brennende Augen. Diese Phase dauert ein bis drei Tage. Viele Menschen denken dann, sie hätten eine Infektion - und nehmen noch mehr Medikamente, etwa gegen Fieber oder Halsschmerzen. Das kann die Reaktion verschlimmern.
Innerhalb von 24 bis 72 Stunden folgt dann die Hautreaktion. Und fast immer: Die Schleimhäute sind betroffen. Über 90 % der Patienten haben so starke Entzündungen im Mund, dass sie nicht mehr essen oder trinken können. 80 % leiden unter Augenproblemen - Rötung, Schmerzen, Tränenfluss. Bei 60 % sind auch Genitalien betroffen. Bei schweren Fällen kann sogar die Lunge betroffen sein, was zu Atemnot führt. Diese Kombination aus Haut und Schleimhäuten ist einzigartig für SJS/TEN.
Welche Medikamente sind die häufigsten Auslöser?
Über 80 % der Fälle werden durch Medikamente ausgelöst. Die Top-Verdächtigen sind klar identifiziert:
- Antiepileptika: Carbamazepin, Phenytoin, Lamotrigin - verantwortlich für etwa 30 % der Fälle.
- Sulfonamide: Trimethoprim-Sulfamethoxazol (Bactrim, Septrin) - 20 %.
- Allopurinol: Das Mittel gegen Gicht - 15 %.
- Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAIDs): Besonders Diclofenac, Ibuprofen und Celecoxib.
- Nevirapin: Ein HIV-Medikament, das bei Neuanwendern besonders riskant ist.
Es gibt auch seltene Auslöser wie Infektionen - vor allem Mycoplasma pneumoniae bei Kindern. Aber Medikamente sind die Hauptursache. Und hier kommt ein entscheidender Punkt: Nicht jeder, der diese Medikamente nimmt, bekommt eine Reaktion. Doch bei bestimmten genetischen Varianten steigt das Risiko dramatisch.
Genetik: Warum trifft es manche und andere nicht?
Einige Menschen tragen eine genetische Veranlagung, die ihre Körper extrem empfindlich für bestimmte Medikamente macht. Das liegt an bestimmten HLA-Genen.
- Wer das HLA-B*15:02-Gen hat, hat ein 1.000-fach höheres Risiko, bei Einnahme von Carbamazepin eine SJS/TEN-Reaktion zu entwickeln - besonders bei Menschen asiatischer Herkunft.
- Wer das HLA-B*58:01-Gen hat, läuft ein 80- bis 580-fach höheres Risiko bei Einnahme von Allopurinol.
Die US-amerikanische FDA und viele europäische Länder empfehlen deshalb jetzt, vor der ersten Einnahme dieser Medikamente einen genetischen Test zu machen. In Taiwan wurde dieses Screening verpflichtend - und die Zahl der SJS/TEN-Fälle sank innerhalb von sechs Jahren um 80 %. Das ist kein kleiner Erfolg - das ist eine Rettung von Leben.
Wie wird die Diagnose gestellt?
Die Diagnose ist nicht immer einfach. Viele Ärzte verwechseln SJS/TEN mit anderen Hauterkrankungen wie dem Staphylokokken-Scalded-Skin-Syndrom oder Pemphigus. Deshalb ist ein Hautbiopsie unverzichtbar.
Ein Pathologe untersucht eine kleine Hautprobe unter dem Mikroskop. Bei SJS/TEN sieht man: Die gesamte Oberhaut ist abgestorben - von oben bis unten. Die darunterliegende Lederhaut zeigt kaum Entzündungszellen. Das ist der entscheidende Unterschied zu anderen Blasenkrankheiten. Auch die klinischen Kriterien zählen: Akuter Beginn, typische Hautveränderungen, Beteiligung von mindestens zwei Schleimhäuten. Diese Kombination macht die Diagnose sicher.
Ein schnelles Erkennen ist lebenswichtig. Jeder Tag Verzögerung erhöht die Sterblichkeit.
Wie wird behandelt?
Es gibt keine spezifische Heilung - aber es gibt eine klare Strategie, die überlebenswichtig ist.
- Medikamente sofort absetzen: Alle nicht lebensnotwendigen Medikamente werden gestoppt. Der Auslöser muss identifiziert und für immer vermieden werden.
- Stationäre Behandlung in der Intensivstation oder Brandabteilung: Die Hautverletzungen ähneln schweren Verbrennungen. Der Körper verliert Flüssigkeit, Eiweiß, Elektrolyte - wie bei einem Brand von 30 % der Körperoberfläche.
- Flüssigkeitsersatz: Patienten brauchen bis zu drei- bis viermal mehr Flüssigkeit als normal - oft über Infusionen.
- Wundversorgung: Keine Klebestreifen, keine Verbandstoffe, die an der Haut haften. Nur weiche, nicht haftende Verbände. Schmerzmittel müssen stark und regelmäßig gegeben werden.
- Augenversorgung: Tägliche Untersuchung durch einen Augenarzt ist Pflicht. Ohne Behandlung drohen Vernarbungen, Verklebungen der Augenlider, trockene Augen - und manchmal Erblindung.
Was ist mit Medikamenten zur Unterdrückung des Immunsystems? Hier gibt es Streit. Intravenöse Immunglobuline (IVIG) wurden lange als Hoffnung gesehen - aber mehrere große Studien konnten keinen Überlebensvorteil nachweisen. Kortison wird oft gegeben, aber es erhöht das Risiko für schwere Infektionen. Cyclosporin hingegen hat in einer Studie die Sterblichkeit von 33 % auf 12,5 % gesenkt. Etanercept, ein Medikament, das einen Entzündungsfaktor blockiert, zeigte in kleinen Studien beeindruckende Ergebnisse: Bei Behandlung innerhalb von 48 Stunden starb kein einziger Patient.
Was bleibt nach der Genesung?
Wer überlebt, hat oft ein Leben lang Folgeschäden.
- Augen: 50-80 % der Überlebenden leiden unter chronischen Problemen - trockene Augen, Lichtempfindlichkeit, Narben auf der Hornhaut. Viele brauchen lebenslang künstliche Tränen oder sogar Operationen.
- Haut: 70 % haben Verfärbungen - entweder zu dunkel oder zu hell. 40 % haben Narben, 25 % verlieren Nägel oder bekommen verformte Nägel.
- Genitalien: Bei Frauen: Verklebungen der Scheide, die eine Operation erfordern. Bei Männern: Verengungen der Harnröhre.
- Psychische Folgen: 40 % der Überlebenden entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Die Erfahrung - Schmerzen, Hautverlust, Krankenhausaufenthalt, Angst vor dem Tod - bleibt im Gedächtnis.
Die Lebensqualität bleibt oft eingeschränkt. Viele können nicht mehr arbeiten, haben Angst vor Medikamenten, vermeiden Arztbesuche - und leiden still.
Wie kann man es verhindern?
Verhütung ist der beste Schutz.
- Wenn du aus einer asiatischen Population stammst und Carbamazepin brauchst - lass dich auf HLA-B*15:02 testen. Falls positiv: kein Carbamazepin.
- Wenn du Allopurinol wegen Gicht bekommst - lass dich auf HLA-B*58:01 testen. Die Testergebnisse kommen heute in weniger als vier Stunden - das ist standardmäßig möglich.
- Wenn du plötzlich Fieber, Schleimhautentzündung und Hautflecken bekommst - nachdem du ein neues Medikament eingenommen hast - geh sofort zum Arzt. Sag: „Ich fürchte eine SJS/TEN-Reaktion.“
- Halte eine Liste deiner Medikamente - besonders wenn du mehrere einnimmst. Teile sie mit jedem Arzt, der dich behandelt.
Es gibt keine Sicherheit - aber es gibt Wissen. Und Wissen rettet Leben.
Was ist die Zukunft?
Forscher arbeiten an neuen Wegen, diese Reaktionen vorherzusagen und zu behandeln. Die internationale iSCAR-Gruppe sammelt Daten von über 1.200 Fällen weltweit - um weitere genetische Risikofaktoren zu finden. Ein neues Ziel: Granulysin. Dieses Protein ist der „Schlüssel“, der die Hautzellen abtötet. Medikamente, die Granulysin blockieren, sind bereits in der Testphase - und könnten bald die Behandlung revolutionieren.
Die Zukunft liegt in der Präzisionsmedizin: Nicht mehr „ein Medikament passt für alle“. Sondern: „Welches Medikament passt zu deinem Gen?“
Kann man Stevens-Johnson-Syndrom durch Allergietests vorhersagen?
Nein, herkömmliche Allergietests wie Hauttests oder Bluttests auf IgE-Antikörper erkennen SJS/TEN nicht. Es handelt sich nicht um eine klassische Allergie, sondern um eine genetisch bedingte, immunvermittelte Reaktion. Die einzige zuverlässige Vorhersage erfolgt durch HLA-Gen-Tests - speziell für bestimmte Medikamente wie Carbamazepin oder Allopurinol.
Ist SJS/TEN ansteckend?
Nein, SJS/TEN ist nicht ansteckend. Es ist keine Infektionskrankheit, sondern eine individuelle, medikamenteninduzierte Reaktion des Immunsystems. Du kannst dich nicht von jemandem mit SJS/TEN anstecken - weder durch Berührung, Luft noch Körperflüssigkeiten.
Wie lange dauert die Genesung?
Die akute Phase dauert meist 8-12 Tage, bis die Haut nicht mehr weiter absterbt. Die Neubildung der Haut dauert dann weitere 2-4 Wochen. Aber die langfristigen Folgen - wie trockene Augen, Narben oder psychische Belastungen - können ein Leben lang anhalten. Viele Überlebende brauchen Jahre, um sich körperlich und seelisch zu stabilisieren.
Warum wird SJS/TEN oft verwechselt?
Weil die frühen Symptome - Fieber, Halsschmerzen, Hautflecken - denen von Infektionen oder harmlosen Hautausschlägen ähneln. Außerdem ist die Erkrankung selten - viele Ärzte haben sie nie gesehen. Ohne Hautbiopsie und genaue Anamnese (Medikamentenliste, zeitlicher Ablauf) bleibt die Diagnose unsicher. Das führt oft zu Verzögerungen - mit tödlichen Folgen.
Kann man nach einer SJS/TEN-Reaktion jemals wieder Medikamente nehmen?
Ja - aber mit extrem großer Vorsicht. Du darfst niemals das Medikament wieder einnehmen, das die Reaktion ausgelöst hat - und oft auch keine verwandten Substanzen. Ein Allergologe oder Pharmakologe sollte eine individuelle Risikobewertung erstellen. Bei manchen Medikamenten gibt es sichere Alternativen. Wichtig: Jedes neue Medikament muss langsam und unter Beobachtung eingeführt werden.