Wie Alter die Nebenwirkungen und Verträglichkeit von Medikamenten beeinflusst

Wie Alter die Nebenwirkungen und Verträglichkeit von Medikamenten beeinflusst

Nov, 6 2025

Wenn Menschen älter werden, verändert sich nicht nur ihr Körper, sondern auch, wie Medikamente auf ihn wirken. Was bei einem 30-Jährigen gut vertragen wird, kann bei einem 75-Jährigen zu schwerwiegenden Problemen führen. Nebenwirkungen werden mit zunehmendem Alter häufiger, schwerer und oft unerkannt. Viele Ärzte verschreiben noch immer die gleichen Dosen wie für jüngere Patienten - doch das ist gefährlich. In den USA verursachen Medikamente allein bei Menschen über 65 jedes Jahr über 35 % aller Krankenhausaufenthalte. Die Hälfte davon wäre vermeidbar.

Warum reagieren ältere Menschen anders auf Medikamente?

Der Körper verändert sich mit dem Alter. Die Leber verarbeitet Medikamente langsamer, die Nieren scheiden sie nicht mehr so effizient aus, und die Fett- und Wasserverteilung im Körper verschiebt sich. Bei Menschen über 80 ist die Körperwassermenge um bis zu 15 % gesunken, während der Fettanteil von 25 % auf bis zu 48 % gestiegen ist. Das bedeutet: Fettlösliche Medikamente wie Diazepam sammeln sich im Fettgewebe an und wirken länger. Wasserlösliche Medikamente wie Digoxin hingegen konzentrieren sich stärker im Blut, weil weniger Wasser vorhanden ist, um sie zu verdünnen.

Auch die Leberfunktion nimmt ab. Zwischen 25 und 65 Jahren sinkt die Blutdurchflussrate der Leber um 20 bis 40 %. Das reduziert die sogenannte First-Pass-Metabolisierung - also die Abbauwirkung, die Medikamente durch die Leber erfahren, bevor sie in den Kreislauf gelangen. Medikamente wie Propranolol oder Verapamil werden daher stärker und länger wirksam. Gleichzeitig sinkt die Menge an Albumin, einem Eiweiß im Blut, das viele Medikamente bindet. Wenn weniger Albumin vorhanden ist, bleibt mehr freies, aktives Medikament im Blut - was die Wirkung verstärkt. Bei Warfarin, einem Blutverdünner, kann das zu lebensgefährlichen Blutungen führen.

Das Gehirn wird empfindlicher

Ältere Menschen reagieren viel stärker auf Medikamente, die das Zentralnervensystem beeinflussen. Ein Beispiel: Diazepam. Bei gleicher Blutkonzentration verursacht es bei Senioren bis zu 50 % mehr Schläfrigkeit und Gedächtnisstörungen als bei jüngeren Menschen. Das liegt an Veränderungen in den Gehirnrezeptoren und einer verminderten Blut-Hirn-Schranke. Deshalb wirken Benzodiazepine wie Lorazepam oder Zolpidem bei Menschen über 65 doppelt bis dreifach stärker - und verursachen 80 % mehr Nachwirkungen am nächsten Tag. Das erhöht das Sturzrisiko dramatisch. Studien zeigen, dass 2 bis 3 Mal so viele ältere Menschen durch diese Medikamente Hüftbrüche erleiden.

Auch Anticholinergika, oft in Allergiemitteln, Schlafhilfen oder Blasenmedikamenten enthalten, sind besonders riskant. Diphenhydramin, der Wirkstoff in vielen rezeptfreien Schlafmitteln, führt bei Menschen über 75 zu einer 4,2-fach höheren Rate an Delirium als bei jüngeren Patienten. Ein Delirium ist eine plötzliche Verwirrtheit, die oft mit Halluzinationen und Orientierungsstörungen einhergeht. Viele Ärzte verschreiben diese Medikamente, ohne zu wissen, wie gefährlich sie für ältere Patienten sind.

Die häufigsten gefährlichen Medikamente für Senioren

Die American Geriatrics Society hat die Beers-Kriterien entwickelt - eine Liste von 56 Medikamenten, die älteren Menschen oft nicht verschrieben werden sollten. Zu den häufigsten Risikomedikamenten gehören:

  • Benzodiazepine (z. B. Diazepam, Lorazepam): Hohe Sturz- und Frakturrate, Gedächtnisverlust
  • Anticholinergika (z. B. Diphenhydramin, Amitriptylin): Verwirrtheit, Harnverhalt, Verstopfung
  • Nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) (z. B. Ibuprofen, Diclofenac): Magenblutungen, Nierenversagen, Bluthochdruck
  • Langwirksame Sulfonylharnstoffe (z. B. Glibenclamid): Starke Unterzuckerung, Bewusstseinsverlust
  • Protonenpumpenhemmer (z. B. Omeprazol): Langfristig erhöhtes Risiko für Knochenbrüche und Darminfektionen

Einige dieser Medikamente sind rezeptfrei erhältlich - und viele Senioren nehmen sie ohne Rücksprache mit ihrem Arzt. Eine Umfrage unter 1.200 älteren Menschen ergab: 68 % haben bereits Schwindel oder Stürze durch Medikamente erlebt, 54 % berichteten von Verwirrtheit oder Gedächtnisproblemen. 45 % haben Medikamente einfach abgesetzt, weil die Nebenwirkungen zu stark waren.

Ein Küchentisch mit mehreren Rezeptflaschen, die gefährliche Wirkungen als farbige Strahlen abstrahlen.

Polypharmazie - die tödliche Mischung

Fast die Hälfte aller Menschen über 65 nimmt fünf oder mehr verschreibungspflichtige Medikamente täglich. Manche nehmen sogar zehn oder mehr - dazu kommen rezeptfreie Mittel, Vitamine und pflanzliche Präparate. Diese sogenannte Polypharmazie ist kein Zufall, sondern oft das Ergebnis von Facharztpraxis: Ein Herzarzt verschreibt ein Medikament, ein Neurologe ein anderes, ein Orthopäde ein drittes. Keiner sieht den Gesamtplan.

Die Folgen sind katastrophal. Jedes zusätzliche Medikament erhöht das Risiko für gefährliche Wechselwirkungen. Ein Beispiel: Ein älterer Patient nimmt Warfarin (Blutverdünner), einen NSAR (z. B. Ibuprofen) und einen Protonenpumpenhemmer. Das kombinierte Risiko für eine Magenblutung steigt um das Dreifache. Eine Studie der University of Florida zeigte: 37 % der Menschen über 80 wurden wegen Medikamentenproblemen ins Krankenhaus eingeliefert - und 62 % dieser Fälle waren vermeidbar.

Was Ärzte und Patienten tun können

Es gibt klare Lösungsansätze - doch sie werden zu selten umgesetzt.

  • Start low, go slow: Beginnen Sie mit 25 bis 50 % der Standarddosis. Erhöhen Sie die Dosis nur langsam und beobachten Sie die Wirkung.
  • Regelmäßige Medikationsüberprüfung: Alle 3 bis 6 Monate sollte ein Arzt oder Apotheker alle Medikamente - inklusive rezeptfreie und Nahrungsergänzungsmittel - gemeinsam mit dem Patienten durchgehen.
  • Brown Bag Review: Der Patient bringt alle Flaschen, Pillen und Tropfen zur Termin - oft finden sich dabei Medikamente, die längst nicht mehr eingenommen werden, oder Doppelverschreibungen.
  • STOPP/START-Kriterien: Diese Leitlinien helfen Ärzten, unangemessene Medikamente abzusetzen (STOPP) und notwendige Medikamente nicht zu vergessen (START).
  • Deprescribing: Nicht alles, was einmal verschrieben wurde, muss lebenslang eingenommen werden. Manche Medikamente verlieren mit dem Alter ihre Wirkung - oder werden zum Risiko. Ein Beispiel: Ein 80-Jähriger nimmt seit 20 Jahren ein Blutdruckmittel, das eigentlich nur bei jüngeren Patienten nötig war. Die Dosis kann oft reduziert oder ganz gestoppt werden - ohne dass der Blutdruck wieder ansteigt.

Die Beers-Kriterien-App, die bereits 125.000 Mal heruntergeladen wurde, hilft Ärzten am Point-of-Care, schnell zu prüfen, ob ein Medikament riskant ist. In Krankenhäusern, die das CDC-Programm „Medication Safety for Older Adults“ umgesetzt haben, sanken Medikationsfehler um 31 %.

Ein Arzt und ein Patient besprechen Medikamente mit einer KI-Überwachungsanzeige, eine Pille wird entfernt.

Warum die Forschung hinterherhinkt

Fast 90 % aller klinischen Studien schließen Menschen über 75 aus. Das ist absurd. Wir testen Medikamente an jungen, gesunden Probanden - und verschreiben sie dann an alte, kranke Menschen mit mehreren Krankheiten. Das Ergebnis: Wir wissen oft nicht, wie diese Medikamente wirklich wirken.

Die FDA fordert nun, dass mindestens 25 % der Studienteilnehmer über 75 Jahre alt sein sollen - bis 2026. Auch die Pharmaindustrie beginnt, spezielle Formulierungen für ältere Patienten zu entwickeln. Zwischen 2020 und 2023 wurden 37 neue Medikamente zugelassen, die auf die Bedürfnisse von Senioren zugeschnitten sind.

Was Patienten selbst tun können

Sie haben mehr Macht, als Sie denken.

  • Frage immer: „Warum nehme ich dieses Medikament?“ und „Gibt es eine sicherere Alternative?“
  • Halten Sie eine Liste aller Medikamente - inklusive Dosierung und Einnahmegrund - bereit.
  • Beobachten Sie: Haben Sie seit der Einnahme neue Symptome? Schwindel? Verwirrtheit? Verstopfung? Harnverhalt? Dann sagen Sie es Ihrem Arzt - nicht „es wird schon vorbeigehen“.
  • Wenn ein Arzt ein neues Medikament verschreibt, fragen Sie: „Ist das für jemanden meines Alters sicher?“
  • Vertrauen Sie nicht auf Apotheker, die nur abgeben. Fragen Sie: „Kann ich dieses Medikament auch absetzen?“

Ein 82-jähriger Mann aus Pennsylvania erzählte in einem Forum: „Meine Blutdruckmedikation hat mich so geschwächt, dass ich fiel und mein Hüftknochen brach. Der Arzt hatte die Dosis wie für einen 50-Jährigen verschrieben.“

Das ist kein Einzelfall. Es ist ein Systemfehler. Aber es ist vermeidbar.

Die Zukunft: Personalisierte Medizin für Senioren

Zukünftig wird die Medizin nicht mehr nur nach Alter, sondern nach individueller Physiologie behandeln. Genetische Tests (z. B. auf CYP2D6 und CYP2C19-Enzyme) zeigen, wie schnell ein Mensch ein Medikament abbaut. Eine Studie in Florida zeigte: Wenn diese Tests bei älteren Patienten mit Psychopharmaka eingesetzt wurden, sanken Nebenwirkungen um 35 %.

Künstliche Intelligenz hilft schon heute. Das System „MedAware“ analysiert alle Medikamente eines Patienten und warnt Ärzte vor gefährlichen Wechselwirkungen - und reduzierte Fehler in einer Johns-Hopkins-Studie um 42 %.

Die American Geriatrics Society will bis 2026 alle Medicare-Empfänger regelmäßig auf ihre Medikation prüfen lassen. Das könnte Hunderttausende Stürze, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle verhindern.

Alter ist kein Grund, Medikamente einfach zu verschreiben. Alter ist ein Grund, sie mit noch mehr Sorgfalt zu verschreiben.

Warum sind Nebenwirkungen bei älteren Menschen häufiger?

Ältere Menschen haben veränderte Körperfunktionen: Nieren und Leber arbeiten langsamer, die Körperzusammensetzung verändert sich (weniger Wasser, mehr Fett), und das Gehirn reagiert empfindlicher auf Medikamente. Das führt dazu, dass Medikamente länger im Körper bleiben, stärker wirken und unerwünschte Effekte leichter auslösen. Außerdem nehmen viele Senioren mehrere Medikamente gleichzeitig ein - das erhöht das Risiko für gefährliche Wechselwirkungen.

Welche Medikamente sollten ältere Menschen vermeiden?

Die Beers-Kriterien listen 56 Medikamente auf, die älteren Menschen oft nicht verschrieben werden sollten. Zu den wichtigsten gehören Benzodiazepine (z. B. Diazepam), Anticholinergika (z. B. Diphenhydramin, Amitriptylin), nicht-steroidale Antirheumatika (z. B. Ibuprofen), langwirksame Blutzuckersenker (z. B. Glibenclamid) und Protonenpumpenhemmer (z. B. Omeprazol). Diese Medikamente erhöhen das Risiko für Stürze, Verwirrtheit, Blutungen, Nierenversagen und Harnverhalt.

Was ist Polypharmazie und warum ist sie gefährlich?

Polypharmazie bedeutet, dass jemand fünf oder mehr Medikamente täglich einnimmt. Bei älteren Menschen ist das häufig - oft wegen mehrerer Erkrankungen. Das Problem: Je mehr Medikamente, desto höher das Risiko für gefährliche Wechselwirkungen, Überdosierungen und Nebenwirkungen. Jedes zusätzliche Medikament erhöht das Risiko, dass etwas schiefgeht. Studien zeigen, dass über 40 % der Senioren mindestens ein Medikament einnehmen, das nach den aktuellen Leitlinien nicht mehr empfohlen wird.

Was ist Deprescribing?

Deprescribing bedeutet, Medikamente bewusst abzusetzen, wenn sie nicht mehr nötig sind oder mehr schaden als nutzen. Das ist besonders wichtig bei älteren Menschen, deren Körper Medikamente langsamer abbaut. Ein Beispiel: Ein 80-Jähriger nimmt seit 20 Jahren ein Blutdruckmittel, das eigentlich nur bei jüngeren Patienten nötig war. Wenn man es vorsichtig abschaltet, sinkt oft der Blutdruck nicht - aber die Nebenwirkungen wie Schwindel oder Stürze verschwinden. Deprescribing ist kein „nicht behandeln“, sondern „besser behandeln“.

Wie kann ich als Patient sicherer mit Medikamenten umgehen?

Machen Sie eine vollständige Liste aller Medikamente - inklusive rezeptfreie, Vitamine und Kräuter. Nehmen Sie diese Liste zu jedem Arzttermin mit („Brown Bag Review“). Fragen Sie: „Warum nehme ich dieses Medikament?“, „Gibt es eine sicherere Alternative?“ und „Kann ich es absetzen?“. Achten Sie auf neue Symptome wie Schwindel, Verwirrtheit, Verstopfung oder Harnverhalt - das sind oft Anzeichen für eine unverträgliche Medikation. Sprechen Sie offen mit Ihrem Arzt oder Apotheker - Sie haben das Recht, nachzufragen.