Handelsabkommen und Generika: Wie TRIPS die Preisgestaltung von Medikamenten weltweit beeinflusst

Handelsabkommen und Generika: Wie TRIPS die Preisgestaltung von Medikamenten weltweit beeinflusst

Nov, 13 2025

TRIPS hat die Welt der Medikamente verändert - nicht durch eine neue Entdeckung, sondern durch eine Regel, die Millionen Menschen das Leben schwer macht. Seit 1995 verpflichtet das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights alle 164 Mitgliedstaaten der WTO, pharmazeutische Erfindungen mindestens 20 Jahre lang zu schützen. Das klingt nach Fairness: Wer forscht, soll auch profitieren. Doch in der Praxis bedeutet das: Ein Medikament, das in Deutschland für 50 Euro erhältlich ist, kostet in Malawi 300 Euro - weil es kein günstiges Generikum gibt. Und das liegt nicht an fehlender Technik, sondern an einem internationalen Rechtssystem, das Patentrechte über Menschenrechte stellt.

Was TRIPS wirklich regelt - und was es verbirgt

TRIPS ist kein einfaches Patentgesetz. Es ist ein globaler Vertrag, der die Regeln für fast alles bestimmt, was mit geistigem Eigentum zu tun hat: von Musik über Software bis hin zu Medikamenten. Besonders kritisch ist Artikel 27, der vorschreibt, dass alle WTO-Mitglieder auch Produktpatente für Arzneimittel anerkennen müssen. Vor 1995 hatten viele Entwicklungsländer nur Verfahrenspatente zugelassen. Das bedeutete: Wenn ein Unternehmen ein Medikament auf einem bestimmten Weg herstellte, durfte ein anderes Unternehmen es mit einem anderen Verfahren nachmachen - und das war legal. In Indien, Brasilien oder Südafrika entstanden so ganze Industrien für billige Generika. Mit TRIPS wurde das verboten. Die Patente galten nun für das Endprodukt - egal, wie es hergestellt wurde.

Das hat sofortige Auswirkungen gehabt. Eine Studie aus dem Jahr 2001 im Journal of the American Medical Association zeigte: In Ländern, die TRIPS umsetzten, stiegen die Preise für patentgeschützte Medikamente um mehr als 200 Prozent. Für HIV-Medikamente, die vorher 10.000 Dollar pro Patient und Jahr kosteten, sanken die Preise erst nach der Einführung von Generika auf 75 Dollar. Aber das geschah nur, weil einige Länder die Schlupflöcher nutzten - und das war kein Zufall.

Die Schlupflöcher: Zwangslizenzen und die Doha-Erklärung

TRIPS enthält eigentlich Flexibilitäten - wenn man sie nutzt. Artikel 31 erlaubt sogenannte Zwangslizenzen: Ein Staat kann einem Hersteller erlauben, ein patentgeschütztes Medikament herzustellen, ohne die Zustimmung des Patentinhabers - etwa bei einer Epidemie. Das ist rechtlich erlaubt. Aber es gibt einen Haken: Die Lizenz muss „überwiegend für den eigenen Markt“ verwendet werden. Das bedeutet: Ein Land, das keine Fabriken hat, kann nicht einfach Generika aus Indien importieren - selbst wenn es dringend braucht.

2001 kam die Doha-Erklärung. Die Weltgesundheitsorganisation und 140 Länder erklärten: Gesundheit geht vor Patenten. Sie bestätigten, dass Länder Zwangslizenzen für öffentliche Gesundheit nutzen dürfen - auch wenn es um HIV, Tuberkulose oder Malaria geht. Aber das war nur ein politisches Statement. Rechtlich blieb das Problem bestehen: Wer produziert, wer importiert? Wer zahlt für die Bürokratie?

2005 wurde eine Lösung gefunden: Die sogenannte „Paragraph-6-Lösung“. Sie erlaubte es Ländern ohne eigene Produktion, Generika aus anderen Ländern zu importieren - wenn beide Seiten eine Lizenz vergeben. Klingt einfach? Ist es nicht. Bis 2016 wurde diese Regel nur einmal genutzt: Kanada exportierte 2007 100.000 Dosen eines Antiretrovirals nach Ruanda. Kein Land hat seitdem wieder versucht, sie anzuwenden. Die Prozesse sind zu komplex, die Rechtsunsicherheit zu groß.

Geteilte Szene: Westliches Pharma-Labor vs. afrikanische Klinik mit leeren Pillenflaschen.

TRIPS Plus: Die stillen Erweiterungen

Während die WTO über Zwangslizenzen diskutiert, haben die USA, die EU und Japan ihre eigenen Regeln gemacht - und sie sind strenger. Diese sogenannten „TRIPS Plus“-Regelungen kommen in Freihandelsverträgen vor. Sie verlängern die Patentlaufzeit, verhindern die Zulassung von Generika durch sogenannte „Datenexklusivität“ und verbieten Zwangslizenzen für bestimmte Medikamente.

Datenexklusivität ist besonders schädlich. Sie bedeutet: Selbst wenn ein Patent abgelaufen ist, darf eine Behörde nicht auf die klinischen Studien des Originalherstellers zurückgreifen, um ein Generikum zuzulassen. Stattdessen muss der Hersteller eigene, teure Studien durchführen - oder warten, bis die Datenexklusivität nach 5 bis 10 Jahren abläuft. In der EU und den USA ist das normal. In Indien oder Brasilien nicht - aber jetzt wird es über Freihandelsverträge eingeführt. Der EU-Vietnam-Freihandelsvertrag von 2020 zum Beispiel schreibt acht Jahre Datenexklusivität vor - das ist mehr als TRIPS erlaubt.

85 Prozent aller Freihandelsverträge der USA enthalten solche „TRIPS Plus“-Klauseln. Entwicklungsländer haben kaum Macht, sie abzulehnen. Wer auf Hilfsgelder oder Marktzugang angewiesen ist, unterwirft sich. Die Folge: Neue Medikamente, die in Europa oder den USA zugelassen sind, kommen in Afrika oder Südostasien erst nach 10-15 Jahren als Generikum an - wenn überhaupt.

Was passiert in der Praxis? Brasilien, Indien, Südafrika

Brasilien war 2000 das erste Land, das generische HIV-Medikamente herstellte - und wurde von den USA mit Handelsstrafen gedroht. Die USA zogen ihre Drohung zurück - aber nur nach massivem internationalem Druck. Südafrika versuchte 1998, generische AIDS-Medikamente zu erlauben. 40 Pharmaunternehmen verklagten das Land. Die Klage wurde erst 2001 fallengelassen, nachdem die Weltgemeinschaft protestierte. Indien musste 2005 von Verfahrens- auf Produktpatente umstellen. Die Folge: Die Preise für Krebsmedikamente stiegen um 300 bis 500 Prozent.

Die Erfahrungen zeigen: Länder, die versuchen, die Flexibilitäten von TRIPS zu nutzen, werden bestraft - nicht durch Kriege, sondern durch Handelsdruck, juristische Belästigung und politische Isolation. Die Pharmaunternehmen nutzen ihre Lobbykraft. Die WHO sagt, dass 65 Prozent der niedrigverdienenden Länder heute noch länger brauchen, um Generika zuzulassen - nicht wegen fehlender Technik, sondern wegen Patentverknüpfungen, die über TRIPS hinausgehen.

Waage mit Patenten und Geld gegen Medikamente und Faust — asymmetrisch und instabil.

Die Lösung? Nicht mehr Patente - sondern mehr Kooperation

Es gibt eine Alternative. Der Medicines Patent Pool, gegründet 2010, verhandelt mit Pharmaunternehmen Lizenzverträge für Generika. Bis 2022 hat er 16 HIV-Medikamente, 6 Hepatitis-C-Medikamente und 4 Tuberkulose-Medikamente lizenziert - und damit 17,4 Millionen Menschen in Entwicklungsländern versorgt. Das ist kein Zufall. Es funktioniert, weil es auf freiwilliger Kooperation beruht - nicht auf Zwang.

Ein weiterer Ansatz: Die 2020 von Indien und Südafrika eingereichte TRIPS-Waiver-Forderung für COVID-19-Impfstoffe. Sie forderte, dass Patente für Pandemie-Medikamente vorübergehend ausgesetzt werden. 100 Länder unterstützten sie. Die EU, die Schweiz und die USA lehnten ab - bis sie 2022 einen halbherzigen Kompromiss akzeptierten. Der Kompromiss war zu schwach, um wirklich etwas zu bewirken. Aber er zeigte: Die Welt ist nicht mehr bereit, stillzulegen.

Was bleibt - und was sich ändern muss

TRIPS hat nicht den Fortschritt aufgehalten. Es hat ihn nur verteilt. Die meisten neuen Medikamente werden heute in den USA, der EU oder Japan entwickelt - und bleiben dort teuer. In Ländern mit niedrigem Einkommen werden 80 Prozent der Medikamente immer noch ohne Patent produziert - aber sie sind oft nicht verfügbar, weil die Regierungen keine Zulassung erteilen, weil sie Angst vor Handelsstrafen haben.

Die Lösung liegt nicht darin, TRIPS abzuschaffen. Die Lösung liegt darin, es neu zu interpretieren. Die WHO, die UN und die ILO haben schon lange gesagt: Gesundheit ist ein Menschenrecht. TRIPS sollte das nicht verletzen. Es muss möglich sein, dass ein Land in einer Epidemie ohne Angst vor Klagen Generika herstellt. Es muss möglich sein, dass ein Land, das keine Fabrik hat, Medikamente aus einem Nachbarland importieren kann - ohne eine 20-seitige Antragsmappe auszufüllen.

Die Pharma-Industrie sagt: Ohne Patente gibt es keine Innovation. Aber wer sagt, dass Innovation nur durch Patente funktioniert? Die Impfstoffe gegen COVID-19 wurden in Rekordzeit entwickelt - und viele davon mit öffentlichen Geldern. Die meisten neuen Medikamente seit 2000 wurden von Unternehmen entwickelt, die in Ländern mit starkem Patentschutz ansässig sind. Aber die meisten Patienten leben in Ländern mit schwachem Patentschutz. Die Kluft wird größer - nicht weil die Technik fehlt, sondern weil das System es so will.

Es ist nicht technisch, sondern politisch, was fehlt. Es braucht keine neue Technologie. Es braucht Mut - von Regierungen, die nicht mehr zittern, wenn die USA droht. Es braucht internationale Solidarität - nicht nur in Krisen, sondern dauerhaft. Und es braucht eine neue Regel: Dass Patente nicht über Leben entscheiden dürfen.

Was ist TRIPS genau?

TRIPS ist das Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum, das 1995 im Rahmen der WTO eingeführt wurde. Es verpflichtet alle Mitgliedstaaten, pharmazeutische Produkte mindestens 20 Jahre lang zu patentieren und stellt Regeln für die Durchsetzung von Patenten auf. Es ist der weltweit umfassendste internationale Vertrag zum Schutz geistigen Eigentums.

Warum sind Generika wichtig?

Generika sind Kopien von patentabgelaufenen Medikamenten, die wesentlich günstiger sind - oft 80 bis 95 Prozent billiger. Sie machen Medikamente für Millionen Menschen in Entwicklungsländern erst bezahlbar. Ohne Generika wären HIV-Behandlungen, Krebsmedikamente oder Antibiotika für die meisten Menschen unerschwinglich.

Können Entwicklungsländer Zwangslizenzen ausstellen?

Ja, das ist laut TRIPS erlaubt - aber nur unter strengen Bedingungen. Sie müssen zuerst versuchen, eine freiwillige Lizenz zu bekommen, die Lizenz darf nicht exklusiv sein und muss vor allem für den eigenen Markt gelten. Die sogenannte „Paragraph-6-Lösung“ erlaubt Importe, ist aber so kompliziert, dass sie praktisch kaum genutzt wird.

Was ist Datenexklusivität?

Datenexklusivität bedeutet, dass Behörden nicht auf die klinischen Studien des Originalherstellers zurückgreifen dürfen, um ein Generikum zuzulassen. Der Hersteller muss eigene, teure Studien durchführen - oder 5 bis 10 Jahre warten. Das verzögert die Einführung von Generika, auch wenn das Patent abgelaufen ist.

Warum blockieren die USA und die EU TRIPS-Waiver?

Sie argumentieren, dass Patente Innovationen fördern und dass eine Aufhebung den langfristigen Forschungsaufwand gefährdet. Doch Kritiker sagen: Die meisten Medikamente werden mit öffentlichen Geldern entwickelt, und Patente dienen oft dazu, Preise hochzuhalten - nicht Innovationen zu schützen. Der Widerstand ist weniger technisch, sondern wirtschaftlich und politisch.